Fabeln, Legenden, Märchen ...

Aus dem Brihatka Upanischad, Indien, 9. Jahrhundert v. Chr.
Zwischenablage02.jpgAm Anfang gab es nichts außer dem Einen. Es dachte die tiefsinnigen Gedanken der Ewigkeit. Als ihm klar wurde, daß es ganz alleine war, fühlte es sich einsam und traurig. Da teilte es sich in zwei Teile. Dunkelheit und Licht, Meer und Himmel, Berg und Tal entstanden, auch der erste Mann und die erste Frau. Sie fühlten die Gemeinsamkeit der Liebe und hatten viele Kinder. Die Frau dachte aber, daß es nicht richtig sein könne, dass sie so viele geworden waren, und verwandelte sich in eine Kuh, um sich zu verstecken. Doch ihr Mann wurde zum Stier, und aus ihnen ging alles Vieh der Welt hervor. Die Frau verwandelte sich in viele andere Tiere, doch immer fand ihr Mann sie, und so wurden alle Tiere der Welt geschaffen. Das Eine wurde zu Allem.
 
Die Schöpfungsgeschichte der Ureinwohner Arizonas
Am Anfang gab es Dunkelheit, Staub und Wasser. Zwischenablage02.jpgAus der dichtesten Stelle der Dunkelheit ging ein Mann hervor. Er überlegte sich einen Ort zu schaffen, zu dem er gehen könnte. Da schuf er die Welt aus Staub und Wasser. Er formte sie als einen Ball, den er vor sich her rollte und der beim Rollen immer größer wurde. Weil er die Welt aber nicht sehen konnte, erschuf er die Sterne aus Wassertropfen, dann den Mond aus Wasser und Sternenlicht. Aber er konnte die Erde immer noch nicht sehen und formte Schüsseln aus Lehm. Eine füllte er mit Wasser und Mondenschein, die andere deckte er darüber. Er blies seinen Atem über die Schüsseln, und nach langer Zeit war die Sonne entstanden. Er warf sie über sich, der Himmel entstand, und er konnte die Welt mit ihren Wäldern, Meeren und Bergen sehen. Er fand die Welt gut.
 
Die Sumerer:
(Die Sumerer gelten als die erste Hochkultur der Welt, noch vor den Alten Ägyptern. Sie erbauten viel früher als andere große Städte und erfanden wichtige Dinge wie zum Beispiel die Keilschrift. Vor 9000 Jahren begannen die Menschen, einmal Tiere im Haus zu züchten und auch Ackerbau zu betreiben. Vor allem die Region im so genannten „Fruchtbaren Halbmond“ war hier bedeutetend.
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Der "fruchtbare Halbmond" (hellgrün)
Das ist die Region des heutigen Syrien und Irak.
Für die Zeit ab 4000 v. Chr wurden die Sumerer zu den bedeutetenden Bewohnern der Region. Ihre Hauptstadt war die Stadt Uruk, nach der auch die Zeit ihren Namen fand. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Beweise für eine Schriftsprache. Etwas später entstanden auch die Zikkurate, die man auch als "Götterberg" übersetzen kann. Diese Tempelanlagen zeigen, wie wichtig die Religion für die Sumerer gewesen ist. Ab 2700 v. Chr. entwickelte sich die Keilschrift, die man in Mesopotamien über 2500 Jahre lang nutzen sollte. Gegen Ende der Zeit der sumerischen Kultur gewannen die Paläste gegenüber den Tempeln immer mehr an Bedeutung. Diese sollten die Tempel bald überragen.)


Die Schöpfung der Sumerer:
Die Göttin Nammu gab es bereits vor aller Schöpfung. In einem wilden Tanz gebar sie zuerst An, den Himmel, dann Ki, die Erde und schließlich alle Göttinnen und Götter.

Von Nammu stammen auch die einhundert „Me“, in sumerischer Vorstellung die göttlichen Kräfte der Weltordnung. Ihr Name wurde in dem Ideogramm (Zeichen der Bilderschrift) als „Meer“ geschrieben. Da alles Leben auf der Erde aus dem Meer kommt, wird mit Nammu auch mit dem „Urmeer“ verbunden.

Als die Welt nun von Nammu geschaffen und die Göttinnen und Götter geboren wurden, hatte jede Gottheit eine Aufgabe bei der Erhaltung des Landes. Besonders die Bewässerung war wichtig, und so wirkten einige Götter als Korbträger, andere als ihre Aufseher. Die harte Arbeit führte aber sehr bald zu Klagen. Nach sumerischen Mythos stöhnten die göttlichen Wesen ob der Last ihrer zahlreichen Aufgaben.

Nammu beriet sich mit ihren Sohn, dem weisen Enki. Bis zu dieser Beratung mit seiner Mutter hatte er geschlafen und war daher nicht wirklich an den göttlichen Aufgaben aktiv beteiligt. Er inspirierte seine Mutter dazu, zur Unterstützung der Göttinnen und Göttern aus Lehm Wesen zu formen.

Diesen Lehm mischte sie aus dem Wasser des „Süßwasserozean“ Anzu (dem lebenspendenden, lebenerhaltenden Süßwasser unter der Erde) und aus dem feuchtweichen Boden Mesopotamiens. So schuf nach dem sumerischen Mythos Nammu mit Hilfe von acht Göttinnen, darunter Beletilii, Nintu, Ninmah, Dingirmah, Mami und Aruru die Menschen.

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Es gibt drei verschiedene Versionen, wie der Mythos weitergeht: Eine dieser Göttinnen – die mächtigste von ihnen – die Muttergöttin Ninmah, fühlt sich zurückgesetzt und in ihrer Ehre gekränkt. Sie will selbst ihre schöpferischen Fähigkeiten beweisen. Doch tut sie dies, blind vor Zorn, auf eine unheilvolle Weise. Sie weiß, dass die Schöpfung von Nammu zwar nicht mehr vernichten ist, wohl aber mit einem Makel versehen werden kann. Sie formte daher aus aus dem übrigen Lehm sieben Menschen, die mit körperlichen Gebrechen und Anomalien versehen waren. Diese sollten die Schönheit der Menschenwelt zerstören.

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In einer anderen Version feierten die Göttinnen und Götter ein Fest, in dem sie feierten, dass sie nun hilfreiche Menschen haben. In dessen Verlauf tranken Enki und die Göttin Ninmah zu viel Bier. Sie begannen einen wahnwitzigen Wettbewerb: Abwechselnd schufen Enki und Ninmah die sonderbarsten Wesen. Die jeweils andere Gottheit musste diesen armen Kreaturen ein passendes Schicksal, eine Funktion oder eine geeignete soziale Rolle zuordnen.

Ninmah formte sechs Kreaturen, die alle körperliche Behinderungen hatten. Drei von ihnen litten an Fehlfunktionen der Genitalien. Enki bestimmte sie zu Priestern. Die anderen wurden Beamte. Eines der Wesen, die Enki geschaffen hatte, war völlig stimmlos, unfähig zu sitzen und zu laufen. Er konnte weder stehen noch essen. Ninmah wusste keine passende Aufgabe für dieses Geschöpf und verlor den Wettstreit.

In einer weiteren Version war die Schlangengöttin Ninhursanga die Frau von Enki. Dieser schwängerte nicht nur seine Frau sondern auch seine Tochter Ninmu und Enkeltochter Ninkurra. Die Urenkelin Uttu widersetzt sich endlich – durch ihre Urgroßmutter Ninhursanga gewarnt — der „Familientradition“ eine weitere „Fruchtbarkeitsgöttin“ Enkis zu werden.

Dieser vergewaltigt darauf hin Uttu. Die wütende Ninhursanga sprach daraufhin einen geheimen Zauber, so dass aus dieser Vergewaltigung Uttu acht geheimnisvolle Pflanzen zur Welt bringt. Pflanzen, wie die die Welt noch nie gesehen hatte. Enki, neugierig auf die Früchte seiner Samen, verspeist seine Nachkommenschaft so schnell, wie sie zur Welt kamen. Ninhursanga konnte ihnen nicht einmal einen Namen geben. Zutiefst geschockt über diese Tat spricht sie über Enki einen Fluch aus Sie ließ Enki an acht Körperstellen erkranken und er wurde seiner Schöpfungskraft beraubt.

Dadurch scheint die Ordnung des Kosmos gefährdet. Ninhursanga heilte Enki darauf hin aber nicht direkt sondern erschuf acht winzige Göttinnen, die den Zustand der betroffenen Körperteile von Enki überwachen sollten und die Macht hatten, diese zu heilen, wenn sie es wollten. So entstanden Erd- und VegetationsgöttInnen, die nicht nur Enki von seinen Leiden befreiten, sondern auch das Land mit Segen und Fruchtbarkeit beschenkten.

Wie dem auch immer war, Enki musste dafür gerade stehen, dass es nun auch Krankheit und Gebrechen auf der Welt gab. Er fügte dies in seine Weltordnung als Vollendung vollkommenen menschlichen Lebens ein und schuf den umu’ul , den „schönen Greis“.

Nun galt es, die ungleich gewordenen Chancen des Lebens gerecht auf die Menschen zu verteilen. Dieser Aufgabe nahm sich die Göttin Nammu an. Sie wurde damit auch die Göttin über die Schicksalsbestimmung Nammu ist uralt und ewig jung.

Sie tanzt nach wie vor als Göttin des gesamten Universums ihren göttlichen Tanz. Da Nammu die Göttin des Ur-Anfangs ist, wird sie um Unterstützung gebeten, wenn ein Anfang gut gelingen soll. Nammu findet sich auch in einer Urmutter Ägyptens und Indiens mit dem Namen Ma-Nu, diese stellt die Tiefe dar, welche vor der Schöpfung bestand.
 
Griechischer Schöpfungsmythos
Zwischenablage01.jpgVor dem Anbeginn der Zeit war das Chaos, ein gähnender Schlund ohne Anfang und ohne Ende. Finster waren die Nebel, aus denen es bestand, und doch lagen schon in ihnen die Urbestandteile allen Lebens: Erde, Wasser, Feuer und Luft.Und so geschah es, dass sich die Finsternis (Erebos) und die Nacht (Nyx) aus dem Schlund erhob. Beide vereinigten sich und gebaren den Äther (Aither) und den Tag (Hemera).

Die erste aber unter allen Göttern war die Erdenmutter Gaia.Zwischenablage02.jpgGaia oder Ge, lat. Gaea, ist nach der griechischen Götterlehre die lebenserzeugende und lebentragende Erde.

Sie entsprang - nach Hesiodos - am Anfang zusammen mit Eros, Tartaros und Nyx dem Chaos. Gaia ist als Hervorbringerin und Trägerin aller Lebewesen Allmutter und Urgottheit, in der sich vorgriechische und archaische griechische Vorstellungen vereinigten. Gaia zeugte aus sich selbst Uranos (den Himmel), Pontos, das Meer, und Tartaros, die Unterwelt.

Als Gemahlin des Uranos gebar sie die Titanen, die Kyklopen und die Hekatoncheiren. Weil Uranos seine Kinder hasste, verbarg er sie in der Erde (Gaia). Gaia veranlaßte deshalb Kronos (der später mit „Rhea“ Zeus zeugte), den Uranos mit einer Sichel zu entmannen. Die dabei auf die Erde fallenden Blutstropfen fing Gaia auf und gebar daraus die Erinnyen und Giganten. Danach übernahm Kronos die Weltherrschaft.
Gaia ist von Pontos Mutter von Phorkys, Ketos, Nereus und Thaumas

Weitere Kinder folgten und so entstand aus der Verbindung von Hyperion und Theia die Sonne (Helios), der Mond (Selene) und die Morgenröte (Eos).
Ihr Sohn Japetos verliebte sich in die schöne Okeanidin Klymene und deren mächtige Kinder waren Atlas, Menoitis, Prometheus und Epimetheus.
So bevölkerte ein ganzes Göttergeschlecht in unterschiedlichsten Erscheinungsformen die frühe Welt.
 
Die Schöpfungsgeschichte der Zulu:
Der Stamm der Zulu beginnt seine Entstehungsgeschichte in Dunkelheit. Unter der Erde träumt „der Große“ einen langen, tiefen Traum über die Welt, so wie die Dinge sein würden. Also kommt er hervor, bringt Sonne und Mond am Himmel an und schafft so Tag und Nacht. Er erschafft aus Lehm die Bantu, die ersten Menschen, setzt sie in die Landesmitte und gibt ihnen Tiere zum Leben.Zwischenablage02.jpg

Daraufhin erschafft er weiße Menschen, die er in die Nähe des Meeres setzt. Zu erschöpft, um den Menschen selbst eine Botschaft zu überbringen, beauftragt er ein Chamäleon und eine Echse, die den Menschen eröffnen sollen, dass sie, nachdem sie gestorben sind, gleich dem Mond, immer wieder zurückkommen.

Das Chamäleon fällt auf dem Weg zurück und die Echse erreicht zuerst die Menschen. Sie bringt jedoch die Botschaft des Großen durcheinander und prophezeit einen Tod ohne Wiederkehr.

Da eine Botschaft des Großen, einmal ausgesprochen, nicht zurückgenommen werden kann, kränkeln die Menschen und sterben, wonach sie wieder zu Lehm zerfallen. Das Chamäleon, das zu spät mit der richtigen Botschaft eintrifft, findet die verwirrten Gedanken der Echse. Sie hat die Idee des immerwährenden Todes in die Welt gebracht.

 
Die Schöpfungsgeschichte Japans (Shinto-Legende)
Am Anfang waren der Himmel und das Meer, welches ohne jede Bewegung war. Der hohe Herrscher des Himmels erschaffZwischenablage02.jpgt Izanagi und Izanami als männlichen und weiblichen Gott, welche mit einem diamantbesetzten Speer Land erschaffen sollen, auf dass es Leben und Tod, Freude und Kummer geben kann.

Die beiden Götter stellen sich auf die Brücke des Himmels und bewegen mit dem Speer das bewegungslose Meer. Als sich das Meer dreht, ziehen sie den Speer heraus, von dem sieben Wassertropfen fallen, die zu den sieben schwimmenden Inseln Japans werden.

Um die Welt zu vervollständigen, zeugen die Götter ihre Kinder Sonne und Mond, Berge, Sturm und Feuer. Aus dem Spiel der Kinder wird die Welt fruchtbar und die Götter erfreuen sich an ihrer Schönheit.
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Die Schöpfungsgeschichte aus Indonesien
Der Stamm der Dajaken überliefert am Anfang aller Zeit Dunkelheit, die sich endlos von Ewigkeit zu Ewigkeit erstreckt. Eine kleine Spinne, die darin schwebt, sammelt Dunkelheit in ihren Beinen, um den daraus gesponnenen Silberfaden an den beiden Enden der Ewigkeiten zu befestigen. Dann webt sie ein glitzerndes Spinnennetz.
In diesem bleibt ein staubkorngroßes Stück einer roten Koralle hängen, die im Laufe der Zeit wächst, bis sie die Größe der Welt angenommen hat. Auf diese Welt fällt eine Schnecke aus der Dunkelheit; aus deren Schleimspur entsteht das Erdreich. Auf diese Erde fällt ein junger Baum, der – über die Verbreitung seiner Samen – die Welt mit Wäldern bedeckt.
In einem dieser Wälder fällt wiederum ein Krebs aus der Dunkelheit, der das Erdreich verschiebt und so Hügel, Berge und Täler schafft. Er lässt aus herabfallendem Regen Flüsse und Sümpfe entstehen, aus denen weitere Pflanzen wachsen. Zwei Lebewesen kamen aus der Dunkelheit, männlich und weiblich, mit veränderlichen Körpern ähnlich dem Rauch im Wind.Zwischenablage02.jpg
Sie schnitzen zwei Köpfe aus Holz und blasen ihren Atem ein, um sie zum Leben zu erwecken. Dann kehren sie zurück in die Dunkelheit. Die Kinder der Köpfe hatten Hälse, die nächste Generation Körper, welche die Götter Amei Awi und Burung Une gebaren. Diese wiederum gebaren acht Kinder: Sonne, Mond und sechs Menschen, welche sich am Überfluss der Eltern labten, bis Amei Awi deren Faulheit zürnt und ihnen am Fuße eines wolkenhohen Berges eine Aufgabe stellt: An der Art, wie sie hinaufklettern, bestimmt sich das Schicksal ihrer Kinder.
Die ersten beiden Menschen bleiben untätig am Fuße des Berges stehen, worauf deren Kinder zu den ersten Herrschern und Königen der Welt werden.
Die übrigen vier Menschen steigen auf, zwei von ihnen rasten nach der Hälfte des Anstiegs und aus ihren Kindern entstehen die reichen Landbesitzer der Welt. Die letzten beiden Menschen gelangen zum Gipfel, deren Kinder die Armen der Welt werden, die ihr Leben lang schwer arbeiten müssen.
Zwischenzeitlich erschaffen Amei Awi und Burung Une Tiere, um den Menschen das Überleben zu sichern. Nachdem sich die Menschen über die ganze Welt ausgebreitet haben, sehen die beiden Götter ihr Werk als vollendet an und ziehen sich unter die Erde zurück, in das Herz der Welt. Von dort aus sprechen sie zu den Wurzeln der Pflanzen, damit die Menschen eine reiche Ernte erhalten.
 
Polynesien – Die Entstehung der Welt
AmAnfang existiert Taaora, welcher das gesamte Universum ausfüllt. Zwischenablage02.jpgEr fühlt sich jedoch so einsam, daß er in die Einsamkeit seine Stimme ruft und aus dem zurückkommenden Echo ein Lied macht. Anfangs ist es ein leises, flüsterndes Lied, aus welchem er das Meer und den Wind singt; die Töne werden zu den Fischen, die das Meer beleben.
Dann ändert Taaora sein Lied, um Land zu erschaffen. Er singt weiße Sandstrände, er singt Steine in den Sand und Berge über die Steine.
Daraufhin wird sein Gesang lauter und er erschafft damit Himmel, Sonne, Mond und Sterne. Als der Sand sich zusammenpresst treten fruchtbare, erdige Inseln hervor, auf die sein Lied als Samen fällt. Mithilfe des Regens entstehen so alle Zwischenablage01.jpgPflanzen.
Taaora singt Insekten, Vögel und Tiere auf die Erde. Als er sieht, dass die Welt vollendet ist, singt er die Menschen aus sich selbst heraus und sich selbst in sie hinein. So wurden die Menschen erfüllt von Licht und dem Lied der Welt.


 
Die Schöpfungsgeschichte der Indianer (Westl. / Südwestl. USA)
Word öffnen.jpgZunächst gab es nur die schwarze und stille Dunkelheit. In ihr erklang ein leiser Ton. Der Ton wurde lauter – das Heulen eines Kojoten, der wiederum um sein Heulen herum entstand, um so materialisiert in die Dunkelheit zu blinzeln.
Er stellt fest in der Dunkelheit nicht laufen zu können, erschafft mit seinem Atem Wind in Form einer Muschel, die er von sich schleudert und so den Himmel kreiert. Durch sein Heulen schafft er Farben, eine Scheibe aus brennendem Gold, die Sonne sowie eine Scheibe aus schimmerndem Silber, den Mond. Er trennt Tag und Nacht und lässt sein hartes Knurren zu Felsen, Hügeln und Bergen werden. Sein leiseres Knurren wird zu Wäldern und grasbewachsenen Prärien.
Mit seinem Jaulen erschafft er Tiere aller Art, um mit ihnen laufen zu können. Doch auch das genügt ihm nicht, er erschafft aus Uferlehm und seinem Atem die ersten Menschen, die er mit dem Auftrag sich zu ernähren, Tiere zu jagen und die neue Welt mit Kindern zu bevölkern versieht.
Er erzählt ihnen, dass sie ihn nie fangen, aber nachts hören können, wenn er voll Freude über die von ihm erschaffene Welt zum Mond heult.
 
Die Schöpfungsgeschichte der Inuit:
Ein Rabe schuf die Welt mit seinen Flügelschlägen.
Er hatte sowohl die Fähigkeiten eines Menschen, als auch die eines Vogels. Er konnte von einem zum anderen einfach wechseln, indem er seinen Schnabel über seinen Kopf zog, wie wenn man eine Maske hochklappt.Zwischenablage02.jpg
Seine Erde war dunkel und still. Er hatte Wasser und Berge geschaffen und das Land mit Hülsenfrüchten versehen.
Nach fünf Tagen sprang eine der Hülsenfrüchten auf. Heraus kam ein ausgewachsener Mann, der erste, der auf der neuen Erde des Raben gehen sollte.
Zuerst war dem Mann schwindelig und er war verwirrt. Er trank aus der Wasserpfütze zu seinen Füßen, wodurch er sich ein wenig besser fühlte.
Der Rabe war hoch über seine Erde geflogen, und sah, was dort passierte.
Lange Zeit starrten der Rabe und der Mensch einander an, ohne ein Wort zu sagen.
Endlich sprach der Rabe: Wer bist Du und woher kommst Du?“
„Ich bin aus der Erbsenschote gekommen“, antwortete der Mensch und zeigte auf die Pflanze.
Der Rabe war erstaunt. Er hatte das Erbsengewächs selbst gemacht, ohne die geringste Ahnung zu haben, daß so etwas geschehen würde.
„Hast Du etwas gegessen?“ fragte der Rabe.
„Ich habe etwas Wasser getrunken, …“ antwortete der Mensch.
„Warte hier auf mich.“ Sagte der Rabe, der seinen Schnabel herunterließ und die Form eines Vogels annahm. Mit einem Stoß seiner dunklen Federn flog er in den Nachthimmel.
Der Mensch wartete vier Tage lang auf den Raben.
Der Rabe trug zwei Himbeeren und zwei Heidelbeeren bei sich, als er zurückkehrte.
„Diese sind für Dich. Sie sollen auf der Erde wachsen, um Dich zu ernähren.“
Der Mensch schlang die Beeren in einem hinunter. Der Rabe erkannte, daß Beeren alleine nicht genug sein würden, um dieses hungrige Geschöpf zu füttern.
Dann begann der Rabe, aus Lehm zwei fette Bergschafe zu formen. Als er seine schwarzen Flügel über ihnen schwang, wurden die Schafe lebendig und sprangen auf den Hügeln.
Er schuf mehr und mehr Schafe. Der Mensch sah sie so hungrig an, daß der Rabe sie vorsorglich weiter entfernt in die Berge setzte, damit der Mensch nicht alle auf einmal essen würde.
Der Rabe schuf außerdem Fische, Vögel und andere Tiere und schwang seine Flügel über jedem von ihnen, um sie zum Leben zu erwecken.Zwischenablage01.jpg
Ein jedes setzte er an einen Platz außerhalb der Reichweite des Menschen, damit dieser nicht alle töten würde. Die Fische in die Flüße und die Vögel in die Luft. Der rabe konnte schon andere Menschen in den Erbsenschoten wachsen sehen, und sie würden ebenfalls hungrig auftauchen.
Der Rabe schuf aus demselben Lehm einen riesigen Bären, um sicherzustellen, daß der Mensch auch etwas zu fürchten hat.
Nach einigen Tagen bemerkte der Rabe, daß der Mensch einsam war.
Der Rabe ging in eine ruhige Ecke der Erde, wo der Mensch nicht sehen konnte, was er tat.
Er begann eine Figur aus Lehm zu bauen. Sie sah aus wie ein Mann, war aber kleiner und zarter. Der Rabe schwang seine Flügel über der neuen Figur, und das hübsche Wesen richtete sich auf und sah den Mann an.
„Das ist eine Frau, Deine Helferin und Gefährtin.“ Sagte der Rabe.
Der Mann freute sich sehr. Zusammen füllten sie die Erde mit ihren Kindern, und bald war die Erde des Raben erfüllt vom Klang vieler Stimmen und quoll über von vielen Lebensformen.
 
„Die Eule“
(Gebrüder Grimm)
- 4.jpgVor ein paar hundert Jahren, als die Leute noch lange nicht so klug und verschmitzt waren, als sie heutzutage sind, hat sich in einer kleinen Stadt eine seltsame Geschichte zugetragen. Von ungefähr war eine von den großen Eulen, die man Schuhu nennt, aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile in die Scheuer eines Bürgers geraten und wagte sich, als der Tag anbrach, aus Furcht vor den andern Vögeln, die, wenn sie sich blicken läßt, ein furchtbares Geschrei erheben, nicht wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus. Als nun der Hausknecht morgens in die Scheuer kam, um Stroh zu holen, erschrak er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saß, so gewaltig, daß er fortlief und seinem Herrn ankündigte, ein Ungeheuer, wie er zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehte die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen. 'Ich kenne dich schon,' sagte der Herr, 'einer Amsel im Felde nachzujagen, dazu hast du Mut genug, aber wenn du ein totes Huhn liegen siehst, so holst du dir erst einen Stock, ehe du ihm nahe kommst. Ich muß nur selbst einmal nachsehen, was das für ein Ungeheuer ist,' setzte der Herr hinzu, ging ganz tapfer zur Scheuer hinein und blickte umher. Als er aber das seltsame und greuliche Tier mit eigenen Augen sah, so geriet er in nicht geringere Angst als der Knecht. Mit ein paar Sätzen sprang er hinaus, lief zu seinen Nachbarn und bat sie flehentlich, ihm gegen ein unbekanntes und gefährliches Tier Beistand zu leisten; ohnehin könnte die ganze Stadt in Gefahr kommen, wenn es aus der Scheuer, wo es säße, heraus bräche.
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Es entstand großer Lärm und Geschrei in allen Straßen: die Bürger kamen mit Spießen, Heugabeln, Sensen und Äxten bewaffnet herbei, als wollten sie gegen den Feind ausziehen: zuletzt erschienen auch die Herren des Rats mit dem Bürgermeister an der Spitze. Als sie sich auf dem Markt geordnet hatten, zogen sie zu der Scheuer und umringten sie von allen Seiten. Hierauf trat einer der beherztesten hervor und ging mit gefälltem Spieß hinein, kam aber gleich darauf mit einem Schrei und totenbleich wieder herausgelaufen, und konnte kein Wort hervorbringen. Noch zwei andere wagten sich hinein, es erging ihnen aber nicht besser. Endlich trat einer hervor, ein großer starker Mann, der wegen seiner Kriegstaten berühmt war, und sprach 'mit bloßem Ansehen werdet ihr das Ungetüm nicht vertreiben, hier muß Ernst gebraucht werden, aber ich sehe, daß ihr alle zu Weibern geworden seid und keiner den Fuchs beißen will.' Er ließ sich Harnisch, Schwert und Spieß bringen und rüstete sich. Alle rühmten seinen Mut, obgleich viele um sein Leben besorgt waren. Die beiden Scheuertore wurden aufgetan, und man erblickte die Eule, die sich indessen in die Mitte auf einen großen Querbalken gesetzt hatte. Er ließ eine Leiter herbeibringen, und als er sie anlegte und sich bereitete hinaufzusteigen, so riefen ihm alle zu, er solle sich männlich halten, und empfahlen ihn dem heiligen Georg, der den Drachen getötet hatte. Als er bald oben war, und die Eule sah, daß er an sie wollte, auch von der Menge und dem Geschrei des Volks verwirrt war und nicht wußte, wohinaus, so verdrehte sie die Augen, sträubte die Federn, sperrte die Flügel auf, gnappte mit dem Schnabel und ließ ihr schuhu, schuhu mit rauher Stimme hören. 'Stoß zu, stoß zu!' rief die Menge draußen dem tapfern Helden zu. 'Wer hier stände, wo ich stehe,' antwortete er, 'der würde nicht stoß zu rufen.' Er setzte zwar den Fuß noch eine Staffel höher, dann aber fing er an zu zittern und machte sich halb ohnmächtig auf den Rückweg.
Nun war keiner mehr übrig, der sich in die Gefahr hätte begeben wollen. 'Das Ungeheuer,' sagten sie, 'hat den stärksten Mann, der unter uns zu finden war, durch sein Gnappen und Anhauchen allein vergiftet und tödlich verwundet, sollen wir andern auch unser Leben in die Schanze schlagen?' Sie ratschlagten, was zu tun wäre, wenn die ganze Stadt nicht sollte zugrunde gehen. Lange Zeit schien alles vergeblich, bis endlich der Bürgermeister einen Ausweg fand. 'Meine Meinung geht dahin,' sprach er, 'daß wir aus gemeinem Säckel diese Scheuer samt allem, was darinliegt, Getreide, Stroh und Heu, dem Eigentümer bezahlen und ihn schadlos halten, dann aber das ganze Gebäude und mit ihm das fürchterliche Tier abbrennen, so braucht doch niemand sein Leben daran zu setzen. Hier ist keine Gelegenheit zu sparen, und Knauserei wäre übel angewendet.' Alle stimmten ihm bei. Also ward die Scheuer an vier Ecken angezündet, und mit ihr die Eule jämmerlich verbrannt. Wers nicht glauben will, der gehe hin und frage selbst nach.
 
Der Zaunkönig
(Gebrüder Grimm)
(Frei nach der Fabel von Aesop)
In der Einleitung des Märchens ist davon die Rede, daß in früheren Zeiten alle Dinge ihre Sprache und somit jeder Klang seine Bedeutung gehabt hätte. Damals konnten auch die Vögel vernünftige Diskussionen führen, während heute alles nur noch Gezwitscher ist. Und so kamen sie zu dem Schluß, daß es eine gute Idee sei, wenn einer von ihnen zum König gewählt würde, auf daß künftig alles seine Ordnung hätte. Nur ein einziger Vogel, der Kiebitz, wollte nicht mitmachen. Er meinte, er wäre frei geboren und wolle frei sterben; seitdem lebt er allein in Gegenden, die andere Vögel eher meiden.

Abgesehen vom Kiebitz kommen alle Vögel zur großen Versammlung, darunter auch ein Kleiner, der noch keinen Namen hat. Die Versammlung kommt überein, daß derjeinige zum König der Vögel erkoren werden soll, der am höchsten fliegen kann. Am nächsten Morgen startet der Wettkampf. Schnell bleiben die kleineren Vögel zurück, und auch die meisten größeren müssen bald aufgeben. Schließlich steigt allein der Adler immer noch höher in den Himmel. Als er sicher ist, daß ihm keiner mehr folgt, läßt er sich gemächlich gleiten. Die anderen rufen ihm von unten zu: Du sollst unser König sein. - 5.jpgDa kommt plötzlich aus dem Brustgefieder des Adlers der kleine namenlose Vogel geflattert und steigt noch etwas höher – angeblich so hoch, daß er Gott auf seinem Stuhl sitzen sieht. Schließlich läßt er sich fallen und ruft: »König bün ick! König bün ick!«
Die anderen Vögel sind empört, daß sich der kleine Wicht durch einen Trick zum König erheben will. Deshalb stellen sie schnell eine andere Bedingung: Es soll derjenige König werden, der am tiefsten in die Erde eindringen kann. Eine gute Chance für den Hahn, der sofort zu scharren beginnt. Die Ente wirft sich in einen Schlammtümpel, bricht sich aber dabei ein Bein. Der kleine Vogel schlüpft in ein Mauseloch und ist damit auch bei diesem Wettkampf der Sieger.

Die Vogelschar ist wütend, daß der Wicht ein zweites Mal durch eine List alle anderen geschlagen hat. Keinesfalls sind sie bereit, ihn als ihren König zu akzeptieren. Sie beschließen, ihn nicht wieder aus dem Loch herauszulassen, sodaß er dort verhungern muß. Als es Nacht wird, soll die Eule das Loch bewachen. Irgendwann wird sie müde und denkt sich, daß sie wenigstens abwechselnd das eine und dann wieder das andere Auge zu machen kann. Nach einer Reihe von Wechseln vergißt sie, gleichzeitig mit dem Schließen des einen Auges das andere wieder zu öffnen. Auf diesen Moment hat der Zaunkönig nur gewartet.

Seit dieser Begebenheit hacken die übrigen Vögel auf die Eule ein, wenn sie sie tagsüber erblicken. Deshalb ist sie vorzugsweise nachts unterwegs, wenn die anderen schlafen. Die Eule gibt die Schuld den Mäusen, denn dies alles wäre nicht passiert, wenn die nicht solche Löcher bauen würden. Die Mäuse müssen die Eule seitdem fürchten. Der kleine Vogel muß sich weiterhin vor den anderen, die er austricksen wollte, in acht nehmen. Gern sucht er in Hecken und Zäunen Deckung und ruft dort sein »König bün ick! König bün ick!«, weshalb ihm die anderen den Spottnamen »Zaunkönig« gegeben haben.
 
Jorinde und Joringel
(Gebrüder Grimm)
- 4.jpgEs war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete sie, kochte und briet es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, so mußte er stillestehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach; wenn aber eine keusche Jungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel und sperrte sie dann in einen Korb ein und trug den Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse.
Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Jorinde; sie war schöner als alle anderen Mädchen. Die und dann ein gar schöner Jüngling namens Joringel hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spazieren. "Hüte dich," sagte Joringel, "daß du nicht so nahe ans Schloß kommst." Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich auf den alten Maibuchen.
Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und klagte: Joringel klagte auch. Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen; sie sahen sich um, waren irre und wußten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg, und halb war sie unter. Joringel sah durchs Gebüsch und sah die alte Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und wurde todbang. Jorinde sang:
"Mein Vöglein mit dem Ringlein rot
singt Leide, Leide, Leide:
es singt dem Täubelein seinen Tod,
singt Leide, Lei - zicküth, zicküth, zicküth."
Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt, die sang zicküth, zicküth. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal schu, hu, hu, hu. Joringel konnte sich nicht regen. Er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager: große rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall war fort. Endlich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: "Grüß dich, Zachiel, wenn's Möndel ins Körbel scheint, bind lose Zachiel, zu guter Stund." Da wurde Joringel los. Er fiel vor dem Weib auf die Knie und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wiedergeben, aber sie sagte, er sollte sie nie wiederhaben, und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. "Uu, was soll mir geschehen?" Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da hütete er die Schafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht zu nahe dabei. Endlich träumte er einmal des Nachts, er fände eine blutrote Blume, in deren Mitte eine schöne große Perle war. Die Blume brach er ab, ging damit zum Schlosse: alles, was er mit der Blume berührte, ward von der Zauberei frei; auch träumte er, er hätte seine Jorinde dadurch wiederbekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Tal zu suchen, ob er eine solche Blume fände; er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrote Blume am Morgen früh. In der Mitte war ein großer Tautropfe, so groß wie die schönste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Wie er auf hundert Schritt nahe bis zum Schloß kam, da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor. Joringel freute sich hoch, berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die vielen Vögel vernähme; endlich hörte er's. Er ging und fand den Saal, darauf war die Zauberin und fütterte die Vögel in den siebentausend Körben. Wie sie den Joringel sah, ward sie bös, sehr bös, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht an sie und ging, besah die Körbe mit den Vögeln; da waren aber viele hundert Nachtigallen, wie sollte er nun seine Jorinde wiederfinden? Indem er so zusah, merkte er, daß die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel wegnahm und damit nach der Türe ging. Flugs sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume und auch das alte Weib - nun konnte sie nichts mehr zaubern, und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefaßt, so schön, wie sie ehemals war. Da machte er auch alle die andern Vögel wieder zu Jungfrauen, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und sie lebten lange vergnügt zusammen.
 
„Das tapfere Schneiderlein“
(Gebrüder Grimm)
An einem frischen Sommermorgen saß ein Schneider an seinem Tisch, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Nach kurzer Zeit umschwirrten Fliegen seinen Kopf. Er schlug nach ihnen und erwischte sieben auf einen Streich! “Das soll die ganze Stadt erfahren.“ sprach er bewundernd. Er fertigte sich einen Gürtel und stickte mit großen Buchstaben darauf: „Sieben auf einen Streich!“
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Der Schneider band sich den Gürtel um, und wollte in die Welt hinaus. Eh er abzog, suchte er sich Proviant zusammen. Er fand einen Käse, den er sich einsteckte. Vor dem Stadt-Tor bemerkte er einen Vogel, der sich in einem Strauch verfangen hatte, den steckte er auch noch ein.
Der Weg führte ihn auf einen Berg. Dort saß ein gewaltiger Riese und schaute sich ganz gemächlich um. Das Schneiderlein ging beherzt auf ihn zu und sprach: „Guten Tag, Kamerad! Hast du Lust mich zu begleiten?“ Der Riese sah den Schneider verächtlich an und sprach: „Du Lump! Du miserabler Kerl!“ „Na sowas!“, antwortete das Schneiderlein und zeigte dem Riesen den Gürtel. Der Riese las: „Sieben auf einen Streich,“ meinte das wären Menschen gewesen, die der Schneider erschlagen hätte, und kriegte ein wenig Respekt vor dem kleinen Kerl. Doch wollte er ihn erst prüfen, nahm einen Stein in die Hand, und drückte ihn zusammen, daß das Wasser heraus tropfte. „Das mach mir nach,“ sprach der Riese. „Wenn’s weiter nichts ist.”, sagte das Schneiderlein, griff in die Tasche, holte den weichen Käse und drückte ihn daß der Saft heraus lief. Der Riese wußte nicht was er sagen sollte. Da hob der Riese einen Stein auf und warf ihn so hoch, daß man ihn mit Augen kaum noch sehen konnte: „Nun, du Erpelmännchen, mach das nach!“ „Gut geworfen,“ sagte der Schneider, „aber der Stein hat doch wieder zur Erde herabfallen müssen, ich will einen werfen, der soll gar nicht wieder kommen;“ griff in die Tasche, nahm den Vogel und warf ihn in die Luft. Der Vogel stieg auf, flog fort und kam nicht wieder. „Werfen kannst du wohl,“ sagte der Riese, „aber nun wollen wir sehen ob du im Stande bist, etwas ordentliches zu tragen.“
Er führte das Schneiderlein zu einer mächtigen Eiche, die gefällt auf dem Boden lag, und sagte: „Wenn du stark genug bist, so trag mit mir den Baum aus dem Walde heraus tragen.“ „Gerne,“ antwortete der kleine Mann, „nimm du nur den Stamm auf deine Schulter, ich will die Äste mit dem Gezweig aufheben und tragen, das ist doch das Schwerste.“ Der Riese nahm den Stamm auf die Schulter, der Schneider aber setzte sich auf einen Ast, und der Riese, der sich nicht umsehen konnte, mußte den ganzen Baum und das Schneiderlein noch obendrein forttragen. Der Riese, nachdem er die schwere Last einige Zeit getragen hatte, konnte nicht weiter und rief: „Hör, ich muß den Baum fallen lassen.“ Der Schneider sprang behände herab, faßte den Baum mit beiden Armen, als ob er ihn getragen hätte und sprach zum Riesen: „Du bist so ein großer Kerl und kannst nichtmal einen Baum tragen.“
Der Riese erschrak und lief hastig davon.
Nachdem es lange gewandert war, kam es in den Hof eines königlichen Palastes, und da es müde war, legte es sich ins Gras und schlief ein. Während es da lag, kamen die Leute, betrachteten es von allen Seiten und lasen auf dem Gürtel: „Sieben auf einen Streich.“ „Ach,“ sprachen sie, „das muß ein mächtiger Herr sein.“ Sie meldeten es dem König, und meinten wenn Krieg ausbrechen sollte, wäre das ein wichtiger und nützlicher Mann, den man um keinen Preis fortlassen dürfte. Dem König gefiel der Rat und er gab ihm einen Auftrag.
In einem Walde seines Landes hausten zwei Riesen, die großen Schaden stifteten. Wenn er diese beiden Riesen überwältigte, so wollte er ihm seine einzige Tochter zur Gemahlin geben und das halbe Königreich dazu; auch sollten hundert Reiter mit ziehen und ihm Beistand leisten.
Das Schneiderlein zog aus. Als er zu dem Rand des Waldes kam, sprang er hinein und schaute sich rechts und links um. Nach einem Weilchen erblickte er beide Riesen. Sie lagen unter einem Baum und schliefen und schnarchten. Das Schneiderlein füllte sich beide Taschen mit Steinen und stieg auf den Baum. Als es in der Mitte war, rutschte es auf einem Ast, bis es gerade über den Schläfern zum sitzen kam und ließ dem einen Riesen einen Stein auf die Brust fallen. Der Riese stieß seinen Gesellen an und sprach „was schlägst du mich.“ „Du träumst,“ sagte der andere, „ich schlage dich nicht.“ Sie legten sich wieder zum Schlaf, da warf der Schneider auf den zweiten einen Stein herab. „Was soll das?“ rief der andere, „warum bewirfst du mich?“ „Ich bewerfe dich nicht,“ antwortete der erste und brummte. Sie zankten sich eine Weile, doch weil sie müde waren, ließen sie’s gut sein und die Augen fielen ihnen wieder zu. - 3.jpgDas Schneiderlein begann sein Spiel von neuem, suchte den größten Stein aus und warf ihn dem ersten Riesen mit aller Gewalt auf die Brust. „Das ist zu arg!“ schrie der, sprang wie ein Unsinniger auf und stieß seinen Gesellen gegen den Baum, daß dieser zitterte. Der andere zahlte es ihm mit gleicher Münze heim und sie gerieten in solche Wut, daß sie aufeinander los schlugen, so lang bis beide erschöpft auf die Erde fielen.
Der Held aber begab sich zum König, der nun, er mochte wollen oder nicht, sein Versprechen halten mußte und ihm seine Tochter und das halbe Königreich übergab. Die Hochzeit wurde mit großer Pracht gehalten und aus einem Schneider ein König gemacht.
 
Zuletzt bearbeitet:
„Der süße Brei!“
(Gebrüder Grimm)
- 1.jpgEs war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: "Töpfchen, koche", so kochte es guten, süßen Hirsebrei, und wenn es sagte: "Töpfchen, steh", so hörte es wieder auf zu kochen.
Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten.
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: "Töpfchen, koche", da kocht es, und sie ißt sich satt; nun will sie, daß das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt's die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: "Töpfchen, steh", da steht es und hört auf zu kochen, und wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen.
 
Der goldene Vogel (Teil 1)
(Gebrüder Grimm)
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Es war vor Zeiten ein König, der hatte einen schönen Lustgarten hinter seinem Schloß, darin stand ein Baum, der goldene Äpfel trug. Als die Äpfel reiften, wurden sie gezählt, aber gleich den nächsten Morgen fehlte einer. Das ward dem König gemeldet, und er befahl, daß alle Nächte unter dem Baume Wache sollte gehalten werden. Der König hatte drei Söhne, davon schickte er den ältesten bei einbrechender Nacht in den Garten. Wie es aber Mitternacht war, konnte er sich des Schlafes nicht erwehren, und am nächsten Morgen fehlte wieder ein Apfel. In der folgenden Nacht mußte der zweite Sohn wachen, aber dem erging es nicht besser. Als es zwölf Uhr geschlagen hatte, schlief er ein, und morgens fehlte ein Apfel. Jetzt kam die Reihe zu wachen an den dritten Sohn; der war auch bereit, aber der König traute ihm nicht viel zu und meinte, er würde noch weniger ausrichten als seine Brüder; endlich aber gestattete er es doch. Der Jüngling legte sich also unter den Baum, wachte und ließ den Schlaf nicht Herr werden. Als es zwölf schlug, so rauschte etwas durch die Luft, und er sah im Mondschein einen Vogel daherfliegen, dessen Gefieder ganz von Gold glänzte. Der Vogel ließ sich auf dem Baume nieder und hatte eben einen Apfel abgepickt, als der Jüngling einen Pfeil nach ihm abschoß. Der Vogel entfloh, aber der Pfeil hatte sein Gefieder getroffen, und eine seiner goldenen Federn fiel herab. Der Jüngling hob sie auf, brachte sie am andern Morgen dem König und erzählte ihm, was er in der Nacht gesehen hatte. Der König versammelte seinen Rat, und jedermann erklärte, eine Feder wie diese sei mehr wert als das gesamte Königreich. "Ist die Feder so kostbar," erklärte der König, "so hilft mir die eine auch nichts, sondern ich will und muß den ganzen Vogel haben."
Der älteste Sohn machte sich auf den Weg, verließ sich auf seine Klugheit und meinte den goldenen Vogel schon zu finden. Wie er eine Strecke gegangen war, sah er an dem Rande eines Waldes einen Fuchs sitzen, legte seine Flinte an und zielte auf ihn. Der Fuchs rief: "Schieß mich nicht, ich will dir dafür einen guten Rat geben. Du bist auf dem Weg nach dem goldenen Vogel und wirst heute abend in ein Dorf kommen, wo zwei Wirtshäuser einander gegenüberstehen. Eins ist hell erleuchtet, und es geht darin lustig her; da kehr aber nicht ein, sondern geh ins andere, wenn es dich auch schlecht ansieht." Wie kann mir wohl so ein albernes Tier einen vernünftigen Rat erteilen! dachte der Königssohn und drückte los, aber er fehlte den Fuchs, der den Schwanz streckte und schnell in den Wald lief. Darauf setzte er seinen Weg fort und kam abends in das Dorf, wo die beiden Wirtshäuser standen. In dem einen ward gesungen und gesprungen, das andere hatte ein armseliges betrübtes Ansehen. Ich wäre wohl ein Narr, dachte er, wenn ich in das lumpige Wirtshaus ginge und das schöne liegen ließ. Also ging er in das lustige ein, lebte da in Saus und Braus und vergaß den Vogel, seinen Vater und alle guten Lehren.
Als eine Zeit verstrichen und der älteste Sohn immer und immer nicht nach Haus gekommen war, so machte sich der zweite auf den Weg und wollte den goldenen Vogel suchen. Wie dem Ältesten begegnete ihm der Fuchs und gab ihm den guten Rat, den er nicht achtete. Er kam zu den beiden Wirtshäusern, wo sein Bruder am Fenster des einen stand, aus dem der Jubel erschallte, und ihn anrief. Er konnte nicht widerstehen, ging hinein und lebte nur seinen Lüsten.
Wiederum verstrich eine Zeit, da wollte der jüngste Königssohn ausziehen und sein Heil versuchen, der Vater aber wollte es nicht zulassen. "Es ist vergeblich," sprach er, "der wird den goldenen Vogel noch weniger finden als seine Brüder, und wenn ihm ein Unglück zustößt, so weiß er sich nicht zu helfen, es fehlt ihm am Besten." Doch endlich, wie keine Ruhe mehr da war, ließ er ihn ziehen. Vor dem Walde saß wieder der Fuchs, bat um sein Leben und erteilte den guten Rat. Der Jüngling war gutmütig und sagte: "Sei ruhig, Füchslein, ich tue dir nichts zuleid!" - "Es soll dich nicht gereuen," antwortete der Fuchs, "und damit du schneller fortkommst, so steig hinten auf meinen Schwanz." Und kaum hat er sich aufgesetzt, so fing der Fuchs an zu laufen und ging's über Stock und Stein, daß die Haare im Winde pfiffen. Als sie zu dem Dorf kamen, stieg der Jüngling ab, befolgte den guten Rat und kehrte, ohne sich umzusehen, in das geringe Wirtshaus ein, wo er ruhig übernachtete. Am andern Morgen, wie er auf das Feld kam, saß da schon der Fuchs und sagte: "Ich will dir weiter sagen, was du zu tun hast. Geh du immer gerade aus, endlich wirst du an ein Schloß kommen, vor dem eine ganze Schar Soldaten liegt; aber kümmre dich nicht darum, denn sie werden alle schlafen und schnarchen: geh mittendurch und geradewegs in das Schloß hinein, und geh durch alle Stuben. Zuletzt wirst du in eine Kammer kommen, wo ein goldener Vogel in einem hölzernen Käfig hängt. Nebenan steht ein leerer Goldkäfig zum Prunk, aber hüte dich, daß du den Vogel nicht aus seinem schlechten Käfig herausnimmst und in den prächtigen tust, sonst möchte es dir schlimm ergehen." Nach diesen Worten streckte der Fuchs wieder seinen Schwanz aus, und der Königssohn setzte sich auf. Da ging's über Stock und Stein, daß die Haare im Winde pfiffen. Als er bei dem Schloß angelangt war, fand er alles so, wie der Fuchs gesagt hatte. Der Königssohn kam in die Kammer, wo der goldene Vogel in einem hölzernen Käfig stand, und ein goldener stand daneben; die drei goldenen Äpfel aber lagen in der Stube umher. Da dachte er, es wäre lächerlich, wenn er den schönen Vogel in dem gemeinen und häßlichen Käfig lassen wollte, öffnete die Türe, packte ihn und setzte ihn in den goldenen. In dem Augenblick aber tat der Vogel einen durchdringenden Schrei. Die Soldaten erwachten, stürzten herein und führten ihn ins Gefängnis. Den andern Morgen wurde er vor ein Gericht gestellt und, da er alles bekannte, zum Tode verurteilt. Doch sagte der König, er wollte ihm unter einer Bedingung das Leben schenken, wenn er ihm nämlich das goldene Pferd brächte, welches noch schneller liefe als der Wind, und dann sollte er obendrein zur Belohnung den goldenen Vogel erhalten.
 
Der goldene Vogel (Teil 2)
(Gebrüder Grimm)
Der Königssohn machte sich auf den Weg, seufzte aber und war traurig, denn wo sollte er das goldene Pferd finden? Da sah er auf einmal seinen alten Freund, den Fuchs, an dem Wege sitzen. "Siehst du," sprach der Fuchs, "so ist es gekommen, weil du mir nicht gehört hast! Doch sei guten Mutes, ich will mich deiner annehmen und dir sagen, wie du zu dem goldenen Pferd gelangst. Du mußt gerades Weges fortgehen, so wirst du zu einem Schloß kommen, wo das Pferd im Stalle steht. Vor dem Stall werden die Stallknechte liegen, aber sie werden schlafen und schnarchen, und du kannst geruhig das goldene Pferd herausführen. Aber eins mußt du in acht nehmen: leg ihm den schlechten Sattel von Holz und Leder auf und ja nicht den goldenen, der dabeihängt, sonst wird es dir schlimm ergehen." Dann streckte der Fuchs seinen Schwanz aus, der Königssohn setzte sich auf, und es ging über Stock und Stein, daß die Haare im Winde pfiffen. Alles traf so ein, wie der Fuchs gesagt hatte, er kam in den Stall, wo das goldene Pferd stand. Als er ihm aber den schlechten Sattel auflegen wollte, so dachte er: Ein so schönes Tier wird verschändet, wenn ich ihm nicht den guten Sattel auflege, der ihm gebührt. Kaum aber berührte der goldene Sattel das Pferd, so fing es an laut zu wiehern. Die Stallknechte erwachten, ergriffen den Jüngling und warfen ihn ins Gefängnis. Am andern Morgen wurde er vom Gerichte zum Tode verurteilt, doch versprach ihm der König das Leben zu schenken und dazu das goldene Pferd, wenn er die schöne Königstochter vom goldenen Schlosse herbeischaffen könnte.
Mit schwerem Herzen machte sich der Jüngling auf den Weg, doch zu seinem Glück fand er bald den treuen Fuchs. "Ich sollte dich nur deinem Unglück überlassen," sagte der Fuchs, "aber ich habe Mitleiden mit dir und will dir noch einmal aus deiner Not helfen. Dein Weg führt dich gerade zu dem goldenen Schlosse. Abends wirst du anlangen, und nachts, wenn alles still ist, dann geht die schöne Königstochter ins Badehaus, um da zu baden. Und wenn sie hineingeht, so spring auf sie zu und gib ihr einen Kuß, dann folgt sie dir, und kannst sie mit dir fortführen; nur dulde nicht, daß sie vorher von ihren Eltern Abschied nimmt, sonst kann es dir schlimm ergehen." Dann streckte der Fuchs seinen Schwanz, der Königssohn setzte sich auf, und so ging es über Stock und Stein, daß die Haare im Winde pfiffen. Als er beim goldenen Schloß ankam, war es so, wie der Fuchs gesagt hatte. Er wartete bis um Mitternacht, als alles in tiefem Schlaf lag und die schöne Jungfrau ins Badehaus ging, da sprang er hervor und gab ihr einen Kuß. Sie sagte, sie wollte gerne mit ihm gehen, sie bat ihn aber flehentlich und mit Tränen, er möchte ihr erlauben, vorher von ihren Eltern Abschied zu nehmen. Er widerstand anfangs ihren Bitten, als sie aber immer mehr weinte und ihm zu Füßen fiel, so gab er endlich nach. Kaum war die Jungfrau zu dem Bette ihres Vaters getreten, so wachte er und alle andern, die im Schlosse waren, auf, und der Jüngling ward festgehalten und ins Gefängnis gesetzt.
Am andern Morgen sprach der König zu ihm: "Dein Leben ist verwirkt, und du kannst bloß Gnade finden, wenn du den Berg abträgst, der vor meinen Fenstern liegt und über welchen ich nicht hinaussehen kann, und das mußt du binnen acht Tagen zustande bringen. Gelingt dir das, so sollst du meine Tochter zur Belohnung haben." Der Königssohn fing an, grub und schaufelte ohne abzulassen, als er aber nach sieben Tagen sah, wie wenig er ausgerichtet hatte und alle seine Arbeit so gut wie nichts war, so fiel er in große Traurigkeit und gab alle Hoffnung auf. Am Abend des siebenten Tages aber erschien der Fuchs und sagte: "Du verdienst nicht, daß ich mich deiner annehme, aber geh nur hin und lege dich schlafen, ich will die Arbeit für dich tun." Am andern Morgen, als er erwachte und zum Fenster hinaussah, so war der Berg verschwunden. Der Jüngling eilte voll Freude zum König und meldete ihm, daß die Bedingung erfüllt wäre, und der König mochte wollen oder nicht, er mußte Wort halten und ihm seine Tochter geben.
Nun zogen die beiden zusammen fort, und es währte nicht lange, so kam der treue Fuchs zu ihnen. "Das Beste hast du zwar," sagte er, "aber zu der Jungfrau aus dem goldenen Schloß gehört auch das goldene Pferd." - "Wie soll ich das bekommen?" fragte der Jüngling. "Das will ich dir sagen," antwortete der Fuchs, "zuerst bring dem Könige, der dich nach dem goldenen Schlosse geschickt hat, die schöne Jungfrau. Da wird unerhörte Freude sein, sie werden dir das goldene Pferd gerne geben und werden dir's vorführen. Setz dich alsbald auf und reiche allen zum Abschied die Hand herab, zuletzt der schönen Jungfrau, und wenn du sie gefaßt hast, so zieh sie mit einem Schwung hinauf und jage davon, und niemand ist imstande, dich einzuholen, denn das Pferd läuft schneller als der Wind."
Alles wurde glücklich vollbracht, und der Königssohn führte die schöne Jungfrau auf dem goldenen Pferde fort. Der Fuchs blieb nicht zurück und sprach zu dem Jüngling: "Jetzt will ich dir auch zu dem goldenen Vogel verhelfen. Wenn du nahe bei dem Schlosse bist, wo sich der Vogel befindet, so laß die Jungfrau absitzen, und ich will sie in meine Obhut nehmen. Dann reit mit dem goldenen Pferd in den Schloßhof; bei dem Anblick wird große Freude sein, und sie werden dir den goldenen Vogel herausbringen. Wie du den Käfig in der Hand hast, so jage zu uns zurück und hole dir die Jungfrau wieder ab." Als der Anschlag geglückt war und der Königssohn mit seinen Schätzen heimreiten wollte, so sagte der Fuchs: "Nun sollst du mich für meinen Beistand belohnen." - "Was verlangst du dafür?" fragte der Jüngling. "Wenn wir dort in den Wald kommen, so schieß mich tot und hau mir Kopf und Pfoten ab." - "Das wäre eine schöne Dankbarkeit!" sagte der Königssohn, "das kann ich dir unmöglich gewähren." Sprach der Fuchs: "Wenn du es nicht tun willst, so muß ich dich verlassen; ehe ich aber fortgehe, will ich dir noch einen guten Rat geben. Vor zwei Stücken hüte dich, kauf kein Galgenfleisch und setze dich an keinen Brunnenrand!" Damit lief er in den Wald.
 
Der goldene Vogel (Teil 3)
(Gebrüder Grimm)
Der Jüngling dachte: "Das ist ein wunderliches Tier, das seltsame Grillen hat. Wer wird Galgenfleisch kaufen! Und die Lust, mich an einen Brunnenrand zu setzen, ist mir noch niemals gekommen." Er ritt mit der schönen Jungfrau weiter, und sein Weg führte ihn wieder durch das Dorf, in welchem seine beiden Brüder geblieben waren. Da war großer Auflauf und Lärmen, und als er fragte, was da los wäre, hieß es, es sollten zwei Leute aufgehängt werden. Als er näher hinzukam, sah er, daß es seine Brüder waren, die allerhand schlimme Streiche verübt und all ihr Gut vertan hatten. Er fragte, ob sie nicht könnten freigemacht werden. "Wenn Ihr für sie bezahlen wollt," antworteten die Leute, "aber was wollt Ihr an die schlechten Menschen Euer Geld hängen und sie loskaufen." Er besann sich aber nicht, zahlte für sie, und als sie freigegeben waren, so setzten sie die Reise gemeinschaftlich fort.
Sie kamen in den Wald, wo ihnen der Fuchs zuerst begegnet war, und da es darin kühl und lieblich war und die Sonne heiß brannte, so sagten die beiden Brüder: "Laßt uns hier an dem Brunnen ein wenig ausruhen, essen und trinken!" Er willigte ein, und während des Gespräches vergaß er sich, setzte sich an den Brunnenrand und versah sich nichts Arges. Aber die beiden Brüder warfen ihn rückwärts in den Brunnen, nahmen die Jungfrau, das Pferd und den Vogel, und zogen heim zu ihrem Vater. "Da bringen wir nicht bloß den goldenen Vogel," sagten sie, "wir haben auch das goldene Pferd und die Jungfrau von dem goldenen Schlosse erbeutet." Da war große Freude, aber das Pferd fraß nicht, der Vogel pfiff nicht, und die Jungfrau, die saß und weinte.
Der jüngste Bruder aber war nicht umgekommen. Der Brunnen war zum Glück trocken, und er fiel auf weiches Moos, ohne Schaden zu nehmen, konnte aber nicht wieder heraus. Auch in dieser Not verließ ihn der treue Fuchs nicht, kam zu ihm herabgesprungen und schalt ihn, daß er seinen Rat vergessen hätte. "Ich kann's aber doch nicht lassen," sagte er, "ich will dir wieder an das Tageslicht helfen." Er sagte ihm, er sollte seinen Schwanz anpacken und sich fest daran halten, und zog ihn dann in die Höhe. "Noch bist du nicht aus aller Gefahr," sagte der Fuchs, "deine Brüder waren deines Todes nicht gewiß und haben den Wald mit Wächtern umstellt, die sollen dich töten, wenn du dich sehen ließest." Da saß ein armer Mann am Weg, mit dem vertauschte der Jüngling die Kleider und gelangte auf diese Weise an des Königs Hof. Niemand erkannte ihn, aber der Vogel fing an zu pfeifen, das Pferd fing an zu fressen, und die schöne Jungfrau hörte Weinens auf. Der König fragte verwundert: "Was hat das zu bedeuten?" Da sprach die Jungfrau: "Ich weiß es nicht, aber ich war so traurig und nun bin ich so fröhlich. Es ist mir, als wäre mein rechter Bräutigam gekommen." Sie erzählte ihm alles, was geschehen war, obgleich die andern Brüder ihr den Tod angedroht hatten, wenn sie etwas verraten würde. Der König hieß alle Leute vor sich bringen, die in seinem Schlosse waren, da kam auch der Jüngling als ein armer Mann in seinen Lumpenkleidern, aber die Jungfrau erkannte ihn gleich und fiel ihm um den Hals. Die gottlosen Brüder wurden ergriffen und hingerichtet, er aber ward mit der schönen Jungfrau vermählt und zum Erben des Königs bestimmt.
Aber wie ist es dem armen Fuchs ergangen? Lange danach ging der Königssohn einmal wieder in den Wald. Da begegnete ihm der Fuchs und sagte: "Du hast nun alles, was du dir wünschen kannst, aber mit meinem Unglück will es kein Ende nehmen, und es steht doch in deiner Macht, mich zu erlösen," und abermals bat er flehentlich, er möchte ihn totschießen und ihm Kopf und Pfoten abhauen. Also tat er's, und kaum war es geschehen, so verwandelte sich der Fuchs in einen Menschen und war niemand anders als der Bruder der schönen Königstochter, der endlich von dem Zauber, der auf ihm lag, erlöst war. Und nun fehlte nichts mehr zu ihrem Glück, solange sie lebten.
 
Die sechs Schwäne (Teil 1)
(Gebrüder Grimm)
Es jagte einmal ein König in einem großen Wald und jagte einem Wild so eifrig nach, daß ihm niemand von seinen Leuten folgen konnte. Als der Abend herankam, hielt er still und blickte um sich, da sah er, daß er sich verirrt hatte. Er suchte einen Ausgang, konnte aber keinen finden. Da sah er eine alte Frau mit wackelndem Kopfe, die auf ihn zukam; das war aber eine Hexe.
"Liebe Frau," sprach er zu ihr, "könnt Ihr mir nicht den Weg durch den Wald zeigen?"
"O ja, Herr König," antwortete sie, "das kann ich wohl, aber es ist eine Bedingung dabei, wenn Ihr die nicht erfüllt, so kommt Ihr nimmermehr aus dem Wald und müßt darin Hungers sterben."
"Was ist das für eine Bedingung?" fragte der König.
"Ich habe eine Tochter," sagte die Alte, "die so schön ist, wie Ihr eine auf der Welt finden könnt, und wohl verdient, Eure Gemahlin zu werden, wollt Ihr die zur Frau Königin machen, so zeige ich Euch den Weg aus dem Walde."
Der König in der Angst seines Herzens willigte ein, und die Alte führte ihn zu ihrem Häuschen, wo ihre Tochter beim Feuer saß. Sie empfing den König, als wenn sie ihn erwartet hätte, und er sah wohl, daß sie sehr schön war, aber sie gefiel ihm doch nicht, und er konnte sie ohne heimliches Grausen nicht ansehen. Nachdem er das Mädchen zu sich aufs Pferd gehoben hatte, zeigte ihm die Alte den Weg, und der König gelangte wieder in sein königliches Schloß, wo die Hochzeit gefeiert wurde.
Der König war schon einmal verheiratet gewesen und hatte von seiner ersten Gemahlin sieben Kinder, sechs Knaben und ein Mädchen, die er über alles auf der Welt liebte. Weil er nun fürchtete, die Stiefmutter möchte sie nicht gut behandeln und ihnen gar ein Leid antun, so brachte er sie in ein einsames Schloß, das mitten in einem Walde stand. Es lag so verborgen und der Weg war so schwer zu finden, daß er ihn selbst nicht gefunden hätte, wenn ihm nicht eine weise Frau ein Knäuel Garn von wunderbarer Eigenschaft geschenkt hätte; wenn er das vor sich hinwarf, so wickelte es sich von selbst los und zeigte ihm den Weg.
Der König ging aber so oft hinaus zu seinen lieben Kindern, daß der Königin seine Abwesenheit auffiel; sie ward neugierig und wollte wissen, was er draußen ganz allein in dem Walde zu schaffen habe. Sie gab seinen Dienern viel Geld, und die verrieten ihr das Geheimnis und sagten ihr auch von dem Knäuel, das allein den Weg zeigen könnte. Nun hatte sie keine Ruhe, bis sie herausgebracht hatte, wo der König das Knäuel aufbewahrte, und dann machte sie kleine weißseidene Hemdchen, und da sie von ihrer Mutter die Hexenkünste gelernt hatte, so nähete sie einen Zauber hinein. Und als der König einmal auf die Jagd geritten war, nahm sie die Hemdchen und ging in den Wald, und das Knäuel zeigte ihr den Weg. Die Kinder, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten, ihr lieber Vater käme zu ihnen, und sprangen ihm voll Freude entgegen. Da warf sie über ein jedes eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib berührt hatte, verwandelten sie sich in Schwäne und flogen über den Wald hinweg. Die Königin ging ganz vergnügt nach Haus und glaubte ihre Stiefkinder los zu sein, aber das Mädchen war ihr mit den Brüdern nicht entgegengelaufen, und sie wußte nichts von ihm. Anderntags kam der König und wollte seine Kinder besuchen, er fand aber niemand als das Mädchen.
"Wo sind deine Brüder?" fragte der König.
"Ach, lieber Vater," antwortete es, "die sind fort und haben mich allein zurückgelassen," und erzählte ihm, daß es aus seinem Fensterlein mit angesehen habe, wie seine Brüder als Schwäne über den Wald weggeflogen wären, und zeigte ihm die Federn, die sie in dem Hof hatten fallen lassen und die es aufgelesen hatte. Der König trauerte, aber er dachte nicht, daß die Königin die böse Tat vollbracht hätte, und weil er fürchtete, das Mädchen würde ihm auch geraubt, so wollte er es mit fortnehmen. Aber es hatte Angst vor der Stiefmutter und bat den König, daß es nur noch diese Nacht im Waldschloß bleiben dürfte.
- 1.jpgDas arme Mädchen dachte: Meines Bleibens ist nicht länger hier, ich will gehen und meine Brüder suchen. Und als die Nacht kam, entfloh es und ging gerade in den Wald hinein. Es ging die ganze Nacht durch und auch den andern Tag in einem fort, bis es vor Müdigkeit nicht weiterkonnte. Da sah es eine Wildhütte, stieg hinauf und fand eine Stube mit sechs kleinen Betten, aber es getraute nicht, sich in eins zu legen, sondern kroch unter eins, legte sich auf den harten Boden und wollte die Nacht da zubringen. Als aber die Sonne bald untergehen wollte, hörte es ein Rauschen und sah, daß sechs Schwäne zum Fenster hereingeflogen kamen. Sie setzten sich auf den Boden und bliesen einander an und bliesen sich alle Federn ab, und ihre Schwanenhaut streifte sich ab wie ein Hemd. Da sah sie das Mädchen an und erkannte ihre Brüder, freute sich und kroch unter dem Bett hervor. Die Brüder waren nicht weniger erfreut, als sie ihr Schwesterchen erblickten, aber ihre Freude war von kurzer Dauer.
"Hier kann deines Bleibens nicht sein," sprachen sie zu ihm, "das ist eine Herberge für Räuber, wenn die heimkommen und finden dich, so ermorden sie dich."
"Könnt ihr mich denn nicht beschützen?" fragte das Schwesterchen.
"Nein," antworteten sie, "denn wir können nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut ablegen und haben in dieser Zeit unsere menschliche Gestalt, aber dann werden wir wieder in Schwäne verwandelt." Das Schwesterchen weinte und sagte: "Könnt ihr denn nicht erlöst werden?"
"Ach nein," antworteten sie, "die Bedingungen sind zu schwer. Du darfst sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und mußt in der Zeit sechs Hemdchen für uns aus Sternenblumen zusammennähen. Kommt ein einziges Wort aus deinem Munde, so ist alle Arbeit verloren." Und als die Brüder das gesprochen hatten, war die Viertelstunde herum, und sie flogen als Schwäne wieder zum Fenster hinaus.
Das Mädchen aber faßte den festen Entschluß, seine Brüder zu erlösen, und wenn es auch sein Leben kostete. Es verließ die Wildhütte, ging mitten in den Wald und setzte sich auf einen Baum und brachte da die Nacht zu. Am andern Morgen ging es aus, sammelte Sternblumen und fing an zu nähen. Reden konnte es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust; es saß da und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, daß der König des Landes in dem Wald jagte und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß. Sie riefen es an und sagten: "Wer bist du?" Es gab aber keine Antwort. "Komm herab zu uns," sagten sie, "wir wollen dir nichts zuleid tun." Es schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, so warf es ihnen seine goldene Halskette herab und dachte sie damit zufriedenzustellen. Sie ließen aber nicht ab, da warf es ihnen seinen Gürtel herab, und als auch dies nicht half, seine Strumpfbänder, und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so daß es nichts mehr als sein Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab und führten es vor den König.
Der König fragte: "Wer bist du? Was machst du auf dem Baum?" Aber es antwortete nicht. Er fragte es in allen Sprachen, die er wußte, aber es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des Königs Herz gerührt, und er faßte eine große Liebe zu ihm. Er tat ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider antun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und seine bescheidenen Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, daß er sprach: "Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt," und nach einigen Tagen vermählte er sich mit ihr.
 
Die sechs Schwäne (Teil 2)
(Gebrüder Grimm)
Der König aber hatte eine böse Mutter, die war unzufrieden mit dieser Heirat und sprach schlecht von der jungen Königin. "Wer weiß, wo die Dirne her ist," sagte sie, "die nicht reden kann: Sie ist eines Königs nicht würdig" Über ein Jahr, als die Königin das erste Kind zur Welt brachte, nahm es ihr die Alte weg und bestrich ihr im Schlafe den Mund mit Blut. Da ging sie zum König und klagte sie an, sie wäre eine Menschenfresserin. Der König wollte es nicht glauben und litt nicht, daß man ihr ein Leid antat. Sie saß aber beständig und nähete an den Hemden und achtete auf nichts anderes. Das nächste Mal, als sie wieder einen schönen Knaben gebar, übte die falsche Schwiegermutter denselben Betrug aus, aber der König konnte sich nicht entschließen, ihren Reden Glauben beizumessen. Er sprach: "Sie ist zu fromm und gut, als daß sie so etwas tun könnte, wäre sie nicht stumm und könnte sie sich verteidigen, so würde ihre Unschuld an den Tag kommen." Als aber das dritte Mal die Alte das neugeborne Kind raubte und die Königin anklagte, die kein Wort zu ihrer Verteidigung vorbrachte, so konnte der König nicht anders, er mußte sie dem Gericht übergeben, und das verurteilte sie, den Tod durchs Feuer zu erleiden.
Als der Tag herankam, wo das Urteil sollte vollzogen werden, da war zugleich der letzte Tag von den sechs Jahren herum, in welchen sie nicht sprechen und nicht lachen durfte, und sie hatte ihre lieben Brüder aus der Macht des Zaubers befreit. Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur daß an dem letzten der linke Ärmel noch fehlte. Als sie nun zum Scheiterhaufen geführt wurde, legte sie die Hemden auf ihren Arm, und als sie oben stand und das Feuer eben sollte angezündet werden, so schaute sie sich um, da kamen sechs Schwäne durch die Luft dahergezogen. Da sah sie, daß ihre Erlösung nahte, und ihr Herz regte sich in Freude.
Die Schwäne rauschten zu ihr her und senkten sich herab, so daß sie ihnen die Hemden überwerfen konnte; und wie sie davon berührt wurden, fielen die Schwanenhäute ab, und ihre Brüder standen leibhaftig vor ihr und waren frisch und schön; nur dem Jüngsten fehlte der linke Arm, und er hatte dafür einen Schwanenflügel am Rücken. Sie herzten und küßten sich, und die Königin ging zu dem Könige, der ganz bestürzt war, und fing an zu reden und sagte: "Liebster Gemahl, nun darf ich sprechen und dir offenbaren, daß ich unschuldig bin und fälschlich angeklagt," und erzählte ihm von dem Betrug der Alten, die ihre drei Kinder weggenommen und verborgen hätte. Da wurden sie zu großer Freude des Königs herbeigeholt, und die böse Schwiegermutter wurde zur Strafe auf den Scheiterhaufen gebunden und zu Asche verbrannt. Der König aber und die Königin mit ihren sechs Brüdern lebten lange Jahre in Glück und Frieden.